Mit Teilautomatisierung stellen sich auch Mittelständler dem Fachkräftemangel

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Der akute Fachkräftemangel in der deutschen Industrie gibt Unternehmen nun einen weiteren Anlass, über Automatisierungslösungen nachzudenken. Am Fraunhofer IEM setzen wir zum Beispiel kollaborative Robotik ein – mit doppeltem Effekt: Erstens übernimmt sie zuverlässig Aufgaben von Facharbeiter:innen und macht Prozesse besser und schneller. Zweitens macht sie das Berufsfeld deutlich attraktiver.

Mann bedient Roboter-Schweißarm.
© Wolfram Schroll / Fraunhofer IEM
Mit der kollaborativen Robotik stellt der Facharbeiter die Schweißanlage nur ein und kann sich dann ausschließlich auf die Prozessüberwachung konzentrieren.
Schaubild Prozessabläufe.
© Fraunhofer IEM
Für die kollaborative Robotik-Lösung kontrolliert eine zentrale speicherprogrammierbare Steuerung alle Prozessabläufe, synchronisiert Teilsysteme und fungiert als Schnittstelle zu übergeordneten Informationsverarbeitungssystemen.

Automatisieren ist nicht immer die beste Lösung. Hohe Variantenvielfalt oder ein zu großer Invest sind zwei bekannte Hindernisse, warum die vollständige Automatisierung für Unternehmen selten eine Option ist. Gerade im Mittelstand zeigt sich: Die vielversprechendste Technologie hat keine Chance, wenn der Implementierungsaufwand für neue Aufträge zu groß ist. Und über Jahrzehnte gewachsene Maschinenparks, Arbeitsprozesse und Kulturen ändert man nicht so einfach.

Trotzdem muss nicht alles so bleiben, wie es ist. Neue Technologien lassen sich zielgerichtet dort einsetzen, wo sie mit wenig Aufwand großen Nutzen bringen. Ein wichtiger Trend ist hier die Teilautomatisierung: Nach sorgfältiger Prüfung können Unternehmen so, ganz entsprechend ihren eigenen Bedürfnissen, bestimmte Prozesse und Arbeitsschritte optimieren.

Am Fraunhofer IEM finden wir mit kleinen und mittleren Unternehmen individuelle Lösungen, mit denen sie sich erfolgreich den aktuellen Herausforderungen stellen. Neben Lieferketten-Engpässen und Handels-Krisen ist der akute Fachkräftemangel eines der drängendsten Probleme. Unser Beispiel aus dem Bereich Kollaborative Robotik zeigt, wie das Unternehmen MIT bisher händische Arbeiten automatisiert und seine Produktion deutlich effizienter macht. Seinen Facharbeiter:innen im Bereich Schweißen bietet es damit spannende Entwicklungschancen.  

Schweißen: Flexibel und einfach durch Low-Code-Lösung

Die MIT Moderne IndustrieTechnik GmbH entwickelt kundenspezifische Systemarmaturen, Montage- und Schweißbaugruppen sowie Sonderarmaturen. Wie bei vielen Mittelständlern war die Einführung von Automatisierungslösungen für das Unternehmen aufgrund geringer Stückzahlen bisher nicht attraktiv. Was fehlte, waren effiziente Lösungen, die auch bei Losgröße 1 wirtschaftlich einsetzbar sind. In der Produktion boten sich im Bereich Schweißen erste Anknüpfungspunkte: Insbesondere die Technik des Rohr-in-Rohr-Schweißens ist sehr anspruchsvoll. Facharbeiter:innen greifen hier auf langjähriges Expertenwissen zurück, um den bis dato rein händischen Schweißprozess zu kontrollieren.

Ziel unserer Zusammenarbeit im Rahmen des BMBF-Forschungsprojektes TALENTED war die Teilautomatisierung dieses Schweißprozesses. Das roboterbasierte kollaborative Schweißsystem sollte automatisch zu verschweißende Nähte lokalisieren und präzise bearbeiten. Zwei grundlegende Anforderungen stellten wir an unser Schweißsystem: Erstens sollte die spätere Bedienung nach dem Prinzip Low Code möglich sein: Facharbeiter:innen sollten ohne klassisches, manuelles Programmieren auskommen. Zweitens sollte es ihnen ermöglicht werden, sich voll und ganz auf die Überwachung des Schweißvorgangs zu konzentrieren. Durch die Arbeitserleichterung auf der einen Seite sollten sie ihr unverzichtbares Prozesswissen auf der anderen Seite noch effektiver einsetzen können.

Cobots – wann sie sich lohnen

Warum haben wir uns für einen kollaborierenden Roboter entschieden? Natürlich kommt es immer auf den spezifischen Anwendungsfall an. Oft bringen die sogenannten Cobots einige Vorteile mit sich. Gerade in gewachsenen Produktionsumfeldern – wie auch beim Unternehmen MIT – bestehen viele unterschiedliche Systeme nebeneinander. Für diese Koexistenz ist der Cobot wie geschaffen: Er ist relativ leicht und handlich und ermöglicht es, Roboterzellen kleiner zu gestalten. Gerade wenn es räumlich eng wird, ist eine Cobot-Lösung meist die beste Wahl.

Hinzu kommt ein technischer Vorteil beim Einrichten auf neue Aufträge: Per Knopfdruck befindet sich der kollaborative Roboter im Freedrive-Modus und kann von Hand geführt werden. Ist das Bauteil platziert, führt der/die Facharbeiter:in den Roboter manuell an die zu schweißende Position und gibt ihm damit den Arbeitsauftrag. Der Freedrive-Modus ermöglicht schnelles und effektives Einrichten ohne komplizierte Programmierung.

Intelligente Software und zentrale SPS

Der/die Facharbeiter:in soll die Schweißanlage nur einstellen und sich dann ausschließlich auf die Prozessüberwachung konzentrieren können. Insbesondere das Anfahren des Prozesses muss beobachtet werden. Gegebenenfalls sind kleine Anpassungen an den Prozessparametern erforderlich. Das erfordert weiterhin großes personenbezogenes Know-how. Damit hierfür die nötigen Kapazitäten freiwerden, liegt die Intelligenz unserer kollaborativen Schweißlösung primär in der Software. Hier sind alle erforderlichen Abläufe, wie zum Beispiel die Ansteuerung des digitalen Schweißgerätes, abgebildet. Eine zentrale speicherprogrammierbare Steuerung steuert alle Prozessabläufe, synchronisiert die Teilsysteme und fungiert als Schnittstelle zu übergeordneten Informationsverarbeitungssystemen.

Und so sieht das kollaborative Schweißen aus: Über eine zentrale einheitliche Benutzerschnittstelle wählt der/die Anwender:in an einem Bedienpanel zwischen unterschiedlichen Schweißprozessen und konfiguriert den Schweißvorgang. Der sonst für jedes Werkstück nötige individuelle Programmieraufwand und das dafür erforderliche Wissen über die Eigenschaften der unterschiedlichen Systemkomponenten wie Schweißgerät, Roboter oder Zusatzachsen entfallen. Der/die Anwender:in wählt nur die Prozesskonfiguration für das jeweilige Werkstück aus und passt bei Bedarf bspw. den Schweißstrom an. Durch die im Werkzeugkopf verbauten Sensoren können auch Schweißnähte für komplexe Werkstückgeometrien automatisiert gezogen werden. Das System erkennt prozess- oder materialbedingte Abweichungen der Werkstücke und gleicht diese selbständig aus.

Raumportale erweitern den Aktionsradius

Die kleinen, flexibel einsetzbaren Cobots spielen in vollautomatisierten Produktionsumgebungen eine immer wichtigere Rolle. Ein Nachteil ist allerdings der relativ geringe Aktionsradius. Gemeinsam mit Rose+Krieger, Anbieter für Komponenten und Systemlösungen für die Automatisierungstechnik, haben wir ein dreiachsiges Raumportal für unsere Cobot-Lösungen entwickelt. Dadurch wird der Arbeitsbereich von Cobots signifikant erweitert.

Intelligente Sensoren und Algorithmen ermöglichen dabei eine reibungslose Kommunikation zwischen Roboter und Raumportal. Das Ergebnis sind synchronisierte Bewegungen von Portal und Cobot sowie die einfache Anpassung des Systems an sich ändernde Anwendungsszenarien ohne aufwendige Umbau- und Rüstarbeiten.

Kollaboratives Schweißen: Nutzen in a nutshell

Das kollaborative Schweißsystem ermöglichen Unternehmen auch bei hoher Variantenvielfalt und gleichzeitig kleinen Stückzahlen eine wirtschaftliche Produktion. Gleichzeitig macht es das Berufsbild des/der Facharbeiter:in deutlich spannender und attraktiver. Hier einmal alle Vorteile auf einen Blick:

  • Einfache Bedienung und schnelle und individuelle Anpassbarkeit
  • Hohe Schweißqualität bei weniger Ausschuss
  • Höherer Durchsatz
  • Volles Ausschöpfen der Expertise der Fachkräfte, die sich voll auf ihr Prozesswissen konzentrieren können
  • Berufsbild von Facharbeiter:innen wird anspruchsvoller und attraktiver

Grundsätzlich ist die vorgestellte Lösung auch auf andere Branchen übertragbar. Nutzen bringt sie, wo eine manuelle Bearbeitung von Produkten oder Werkstücken nicht wirtschaftlich ist bzw. körperliche Arbeitsbelastungen verringert werden sollen. Beispiele sind Oberflächenbearbeitungen wie Ausfräsen oder kraftsensitives Polieren oder auch Handhabungsvorgänge wie Stapeln oder Sortieren.  

Karrierechancen durch Robotik erkennen

Natürlich bedeutet das Einführen von Automatisierungslösungen immer auch einen Veränderungsprozess für die Mitarbeiter:innen. Erfolgsfaktoren sind hier zum einen eine neugierige, technikaffine Belegschaft. Zum anderen müssen Führungskräfte Sorgen und Vorbehalte nehmen können und Unterstützung und Weiterbildung bei der Umstellung auf neue Arbeitstechniken und Prozesse bieten. Wichtig ist es, seinen Mitarbeiter:innen die Chancen aufzuzeigen: Wer vorher geschweißt hat, bedient plötzlich eine komplexe Automatisierungslösung – und bekommt ganz neue Karrierechancen.

Interesse an Weiterbildung? Werfen Sie doch einmal einen Blick auf das Schulungsprogramm der IEM Academy. Weiterbildung Automation and Robotics - Fraunhofer IEM

Kollaborative Robotik ohne Programmieraufwand - Schweißroboter entlastet Werker

Bisher manuell durchgeführte Schweißarbeiten lassen sich mit sensorgeführten kollaboratiben Robotern teilweise automatisieren. Dabei wird der Werker durch einen präzisen Roboterarm unterstützt, der ihm langwierige Arbeiten abnimmt. Mehr Informationen zum Forschungsprojekt TALENTED.