Interview: Forschungsbereich Produktentstehung

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Der Forschungsbereich Produktentstehung steht für eine fachübergreifende, technologiegestützte Entwicklung, die den gesamten Innovationsprozess im Blick hat – von der strategischen Planung bis hin zum Markterfolg. Direktor Prof. Dr.-Ing. Roman Dumitrescu und die Abteilungsleiter Dr.-Ing. Arno Kühn und Dr.-Ing. Harald Anacker erläutern, wie Unternehmen mit Systemdenken und Kooperation die Herausforderungen von Klimawandel, Pandemie und Geopolitik meistern.

Warum sollten Unternehmen die Produktentstehung ganz oben auf ihre Agenda setzen?

Roman Dumitrescu: Produktentstehung ist der Schlüssel für fast alles; vom Produktdesign bis zum Geschäftsmodell können Unternehmen hier die richtigen Stellhebel setzen, um ihre Produkte nachhaltig zu produzieren und erfolgreich am Markt zu platzieren. Die Herausforderung ist, dass dieser Prozess erstens auf Basis von sehr wenig Informationen abläuft. Und zweitens, dass die Digitalisierung unsere Produkte und Prozesse immer komplexer macht. Unsere Aufgabe ist es, Unternehmen mit Methoden und Technologien bei dieser elementaren Arbeit zu unterstützen. Ganz grundlegend sind das Systemdenken und Methoden des Systems Engineering, um Expert:innen aller Fachrichtungen zusammenzubringen. So gelingt es, sich bereits im Rahmen der Produktentstehung Gedanken um die zugehörige Wertschöpfung zu machen.

Zitat von Prof. Dr.-Ing. Roman Dumitrescu
© Fraunhofer IEM

Arno Kühn: Die Digitalisierung ist für uns nicht nur Herausforderung, sondern auch zentraler Lösungsansatz! So können IT-Systeme komplexe Prozesse unterstützen oder intelligente Datenerfassung Produktionsmaschinen optimieren. Diese digitale Transformation betrifft das gesamte Unternehmen, vom Engineering bis in die Produktion und darüber hinaus.

Welche Themenfelder standen zuletzt ganz oben auf der Forschungsagenda?

Harald Anacker: In zentralen Themenfeldern haben wir unser Profil geschärft und unser Netzwerk erweitert. Da ist zum einen die angewandte Künstliche Intelligenz. Im KI-Marktplatz haben wir mit 20 Partnern ein digitales Ökosystem für Künstliche Intelligenz in der Produktentstehung ins Leben gerufen. Den Blick auf die Bedeutung von KI in der Berufswelt schärft unser Kompetenzzentrum Arbeitswelt.Plus. Den Bereich Data Science im Produktionsumfeld fokussieren wir aktuell im Großprojekt Datenfabrik NRW.

Zum anderen ist da der Bereich Systems Engineering. Wir koordinieren die BMBF-Initiative Advanced Systems Engineering und veröffentlichen zusammen mit acatech eine großformatige ASE-Strategie. Auch das Verbundprojekt MoSyS zum menschzentrierten Engineering ist hier zu nennen. Ein weiteres Highlight im SE-Kontext: im Sommer 2022 geht im norwegischen Stavanger die erste emissionsfreie Highspeed-Passagierfähre in den Linienbetrieb. Im EU-Projekt TrAM haben wir die Entwicklung nach modularen Prinzipien verantwortet und Grundlagen geschaffen, damit große Fähren künftig deutlich schneller und effizienter entwickelt und produziert werden können.

Was ist das Erfolgsrezept Ihrer Forschung?

Roman Dumitrescu: Partnerschaften! In vielen Initiativen und Projekten haben wir uns ein extrem belastbares und vertrauensvolles Netzwerk aufgebaut, sowohl in der Region als auch darüber hinaus. Das merken wir auch, wenn Personen ihren Tätigkeitsschwerpunkt ändern: Die Kontakte und die Motivation, weiter zusammenzuarbeiten, bleiben bestehen. So entwickeln sich ganz neue Themenfelder und Forschungsideen. Gleichzeitig beobachten wir aufmerksam die Auswirkungen von Klimawandel, Pandemie und Geopolitik auf unsere Partner: So dynamisch wie jetzt war es noch nie! Unser Job ist es, unsere Forschung immer neu auf sich wandelnde Herausforderungen einzustellen.

Sie sagen es: die Herausforderungen für die Industrie sind dynamisch und vielfältig wie nie. Was raten Sie Ihren Partnern?

Harald Anacker: An erster Stelle legen wir ihnen das Systemdenken ans Herz. Unternehmen sollten diese Perspektive konsequent in die gesamte Organisation hineintragen und so die Auswirkungen des eigenen Handelns transparent machen. Komplexität kann man nicht wegmanagen. Man muss sie verstehen und beherrschen! Welche Auswirkungen hat z.B. die Auswahl eines bestimmten Materials oder Designs auf die Dimensionen Nachhaltigkeit oder Lieferketten? Welche Chancen und Risiken hat die Wahl meiner Produktionsstandorte? Die Zeiten, in denen wir selbstverständlich in einem sicheren Umfeld leben und wirtschaften sind vorbei. Methoden des Systems Engineering helfen bei all diesen Überlegungen. 

Zitat von Dr.-Ing. Harald Anacker
© Fraunhofer IEM

Arno Kühn: Eine weitere wichtige Strategie für die Zukunft ist: Setzen Sie auf Kooperationen. Den komplexen Anforderungen der heutigen Zeit kann und muss kein Betrieb allein begegnen. Unternehmensübergreifende Zusammenarbeit ist auch Lösung für das heikle Thema Fachkräftemangel: Unternehmen ringen heute um Kompetenzträger:innen und gerade KMU haben es extrem schwer, Technologie- und Digitalisierungs-Know-how an Bord zu holen.

Kooperation kann unterschiedlich aussehen: Von der Mitarbeit in einem Innovationscluster wie dem Technologie-Netzwerk it’s OWL, über Schulungs- und Trainingsformate, die wir in der Fraunhofer IEM Academy anbieten hin zu ganz neuen Kooperationsmodellen, mit denen Industrieunternehmen stets Zugriff auf aktuelles Forschungswissen haben. Last but not least: ebenso wichtig wie Fachwissen ist eine positive, veränderungsbereite Unternehmenskultur. 

Zitat von Dr.-Ing. Arno Kühn
© Fraunhofer IEM

Wie sieht es mit dem Jahrhundertthema Nachhaltigkeit in der Produktentstehung aus?

Roman Dumitrescu: Wer es mit dem Thema ernst meint, erarbeitet eine Vision für die Nachhaltigkeit seines Unternehmens in all ihren Dimensionen. Die Produktentstehung und unser systemischer Ansatz ermöglichen es, die Konsequenzen des eigenen Geschäftsmodells radikal offenzulegen. Unsere Studien zeigen: Weit über 90% der Treibhausgase von Industrieunternehmen werden in den nachgelagerten Prozessen ihrer Lieferketten verursacht, z.B. beim nächsten Kunden. Um also wirklich nachhaltig zu wirtschaften, werden wir radikal neu denken, handeln und wirtschaften müssen.

Ein Blick in die Zukunft: Welche Pläne hat der Forschungsbereich für die nächsten Monate?

Harald Anacker: Zuallererst wollen wir unseren Appel zu mehr Kooperation in die Tat umsetzen. Zunächst bei uns am Institut: Unser neues IoT Xperience Center in der Zukunftsmeile 2 ist die ideale Umgebung, um zusammen mit Unternehmen die Themen vernetzte Industrie und 5G zum Leben zu erwecken. Das IoT Xperience Center steht dabei stellvertretend für eine Reihe an Laboren und Veranstaltungen, die durch die Pandemie noch nicht die Aufmerksamkeit bekommen haben, die sie verdienen. Das wollen wir nachholen.

Roman Dumitrescu: Außerdem wird es darum gehen, die neue Förderphase des Technologie-Netzwerks it’s OWL erfolgreich zu gestalten. Auch unsere bundesweiten Aktivitäten im Bereich Advanced Systems Engineering sollen noch stärker auf die politische Agenda rücken. Systems Engineering ist ein absolutes Zukunftsthema – im Vergleich zu Programmen wie Industrie 4.0 ist der sehr methodische und strategische Ansatz allerdings eine Herausforderung in der Kommunikation. In Paderborn werden hier viele Fäden zusammenlaufen – und das ist genau richtig so.